Unlängst führte ich mir eine Buchrezension zu Gemüte. Darin hiess es: «Eindrücklich erzählt der Biograf Rüdiger Safranski von der beschwerlichen Reise vom schwäbischen Nürtingen über Lyon nach Bordeaux. Friedrich Hölderlin läuft am 10. Dezember 1801 zu Hause los und kommt am 28. Januar 1802 an.»
Ich stelle mir den Sachverhalt bildlich vor: Wie der deutsche Dichter, der vom Redaktor als überempfindlich bezeichnet wird, einen Dauerlauf hinlegt, der fast 13 Monate dauert. Ich staune und frage mich: Wie hat der das bloss gemacht? Hölderlin hatte doch bestimmt Gepäck dabei – er sollte ja eine Stelle antreten in Frankreich. Weiter unten im Artikel ist dann von einem wochenlangen Fussmarsch die Rede. Ach so, er ist die Strecke gar nicht gelaufen?
Angefangen hat es in umgangssprachlichen Mitteilungen: «Wir sind am Sonntag über die Albiskette gelaufen.» Nein, sind sie nicht! Sie sind gewandert. «Ich bin gestern vom Bahnhof ans Seebecken gelaufen.» Nein, ist sie nicht! Sie ist spaziert.
Später tauchte das Wort laufen anstelle von gehen in Gratisblättern und anderen Publikationen auf, bei denen das Korrektorat weggespart wurde. Und nun ist die Unsitte also im Kulturteil von grossen Tageszeitungen angekommen.
Im Deutschen bieten sich für gehen jede Menge Wörter an, die den Vorgang des schrittweisen Sichfortbewegens auf den Füssen präzise beschreiben: spazieren, schlendern, wandern, schlurfen, trotten, marschieren und so fort. Was für eine Auswahl! Was für eine Vielfalt! Wie viele Möglichkeiten, um einen Text abwechslungsreich zu gestalten! Aber nein, nun laufen sie alle, ständig und überall, aber niemand geht mehr.
Laufen hingegen bedeutet, genau genommen, dass sich jemand in schnellerem Tempo so fortbewegt, dass sich jeweils schrittweise für einen kurzen Augenblick beide Sohlen vom Boden lösen.
Und nun soll mir niemand kommen und sagen, das Problem sei, dass Schweizerinnen und Schweizer Mühe mit der Schriftsprache hätten – ja, im Schweizerdeutschen wird laufe für gehen benützt und springe oder ränne fürs hochdeutsche laufen. Doch zu meinem Bedauern wird laufen inzwischen auch in Deutschland erscheinenden Zeitungen verwendet. Zu ändern ist das wohl nicht mehr.
Dass alle laufen und niemand mehr geht, ist vielleicht gar kein sprachliches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Die Ökonomisierung, also das Vordringen marktwirtschaftlichen Denkens in alle Lebensbereiche, scheint so weit fortgeschritten, dass Gehen nicht mehr effizient genug ist, dass niemand mehr Zeit hat, dass alle laufen.