Unlängst ging ich den Frauenmorden nach, die sich im vergangenen Jahr in der Schweiz ereigneten. 24 waren es im Jahr 2018 gewesen, für 2019 sind die Zahlen noch nicht bekannt.

Mehr als einmal stutzte ich bei der Formulierung «ereignete sich in einem idyllischen Familienquartier». Wie ist das zu verstehen? In einem Familienquartier können sich per Definition keine Morde ereignen? Im Partyquartier Zürich-West aber schon? Oder unterscheidet der Schreibende zwischen einem idyllischen und einem nicht so idyllischen Familienquartier? Und was bitte soll ich mir unter einem idyllischen Quartier vorstellen? Oder anders gefragt: Was für Gedanken geistern im Schreibenden herum? Ich weiss es nicht, aber ich habe da so meinen Verdacht.

Nicht auszurotten sind offenbar folgende Klischees: Auf dem Land lebt es sich ruhig – dabei wohnen gar nicht so wenige LandbewohnerInnen an einer stark befahrenen lauten Strasse. Damit eine Stadt von sich behaupten kann, sie sei modern – seit einiger Zeit wird dies mit Vorliebe als urban bezeichnet –, muss sie Restaurant-Öffnungszeiten weit über Mitternacht hinaus erlauben – auch wenn die QuartierbewohnerInnen nicht mehr schlafen können. Heisst aber auch: Ein Quartier, das sich durch Bauten auszeichnet, die für Menschen und nicht für die Erzielung einer Rendite errichtet worden sind, läuft rasch einmal unter idyllisch. Ein Quartier, in dem das Lebensmittelgeschäft nicht durch einen Take-Away ersetzt worden ist, wäre demnach auch idyllisch. Konkret also: Ein Quartier, in dem es sich einfach und in Ruhe leben lässt und in dem die Wohnungsmieten noch nicht explodiert sind, gilt als idyllisch – dabei müsste das doch normal, menschenwürdig und selbstverständlich sein. Das Gegenteil scheint aber der Fall: Laut, menschenunwürdig, gefährlich und dreckig – das ist normal. Alles andere: idyllisch.

Deshalb wünsche ich Ihnen nicht ein idyllisches neues Jahr, sondern ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes, fröhliches und ruhiges.

PS: Dass die Deutsche Presseagentur (DPA) im vergangenen Herbst entschieden hat, zukünftig in der Berichterstattung auf die Bezeichnungen «Familiendrama» und «Beziehungstragödie» zu verzichten, ist meiner Meinung nach lobenswert. Die Ermordung einer Frau ist keine Tragödie, sondern eine Gewalttat.

2 thoughts on “Idyllischer Mord

  1. Liebe Suleika
    wie immer äusserst treffen formuliert! Auch ich störe mich sehr an solchen Umschreibungen, besonders ätzend finde ich jeweils, wenn Opfer von Gewalttaten als besonders lieb, fröhlich, sozial und dergleichen mehr beschrieben werden. Als ob es bei denjenigen, welche nicht so lieb, fröhlich oder sozial sind weniger schlimm wäre.
    ich freue mich auf weitere Beiträge!
    Stefanie

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