Unlängst studierte ich die Abstimmungsunterlagen und überflog parallel dazu die entsprechenden Medienberichte. Im Zusammenhang mit der Wohnungsinitiative («Mehr bezahlbare Wohnungen»), über die am 9. Februar 2020 abgestimmt wird, war immer wieder von einem «radikalen Anliegen» die Rede, meistens dann, wenn Gegnerinnen oder Gegner der Vorlage zu Wort kamen. So wie die Aussagen formuliert waren, muss ich zum Schluss kommen, dass mit radikal in diesem Zusammenhang extrem, drastisch, übertrieben, kompromisslos, rigoros, unverhältnismässig, übersteigert, masslos, totalitär, dogmatisch oder gar anarchistisch gemeint ist. Die Initiativ-GegnerInnen wollen demnach auch sagen: So etwas kann niemand wollen, so etwas soll man nicht unterstützen. Mir scheint ganz, dass sie damit den Stimmberechtigten auch suggerieren wollen: Sie sind doch nicht extremistisch, masslos oder dogmatisch?! Wie können Sie dann Ja sagen zu dieser Vorlage?
Da kann ich nur sagen: Von wegen radikal!
Ein Problem, welches viele Menschen betrifft, von Grund auf anzugehen –eben zum Beispiel das der Wohnungen beziehungsweise der unanständig hohen Mietzinsen –, das müsste doch eigentlich Aufgabe der Politik sein. Wenn aber die etablierten Politikerinnen und Politiker nichts unternehmen – wie viele von ihnen sind selber noch Mieter? –, dann müssen andere Wege gesucht werden. Genau dafür gibt es das Mittel der Volksinitiative, das jedem offen steht; wie zum Beispiel dem Schweizerischen Mieterverband.
Was ist extrem daran, wenn mehr staatliche Förderung von preisgünstigen Wohnungen gefordert wird? Es soll unverhältnismässig sein, übertrieben gar, wenn 10 Prozent der Wohnungen gemeinnützig sind? Dass ich nicht lache. Wohnen ist ein Grundbedürfnis, so wie Essen oder Trinken oder Atmen, eine Notwendigkeit, kein Luxus.
Weshalb also diese Behauptung, die Wohnungsinitiative sei radikal?
Laut Wikipedia leitet sich das Adjektiv radikal vom lateinischen radix (Wurzel) ab und beschreibt das Bestreben, gesellschaftliche und politische Probleme «an der Wurzel» anzupacken und von dort aus möglichst umfassend, vollständig und nachhaltig zu lösen.
Das würde demnach heissen, dass die Wohnungsinitiative lösungsorientiert ist. Doch wer hat ein Interesse daran, keine Lösung zu finden? Jene, die mit Immobilien ihr Geld machen.
So gesehen ist das Anliegen der Initiative überhaupt nicht radikal. Es ist ein scheuer erster Schritt. Um das Übel an der Wurzel zu bekämpfen, eine grundlegende Änderung zu erwirken, müssten wir in der Schweiz darüber diskutieren, weshalb es überhaupt Eigentum am Boden gibt. Und weshalb der Boden nicht allen gehört, der Allgemeinheit, der Allmende. Nutzen dürfte man ihn selbstverständlich und für Arbeit, die damit verbunden ist, auch Geld verlangen. Ideen gäbe es genug.
Das wäre dann tatsächlich radikal, grundlegend, umfassend und nachhaltig – und würde viel verändern in einem Land der Mieterinnen und Mieter, die, so ist zu befürchten, auch dieses Mal wieder gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Verstehe das EineR!
PS:
In der französischen Schweiz heisst die Freisinnig-Demokratischen Partei, die sich seit 2009 FDP. Die Liberalen nennt, übrigens PLR. Les Libéraux-Radicaux. Die Freisinnigen als Radikale?