Eigentlich sollte heute noch einmal Elisabeth de Meuron zu Wort kommen. Doch weil sich die Welt im Laufe des Monats März 2020 auf unerwartete Weise verändert hat, beziehungsweise ich sowenig wie Millionen andere Menschen gedacht hätte, dass eine Pandemie unseren Alltag vorübergehend auf den Kopf stellen würde, treibt mich diesmal eine andere Frage um.
Wie konnte es geschehen, dass innert weniger Wochen ein Begriff auftaucht, unzählige Male wiederholt wird, und flugs! auf Merkblättern erscheint, in Zeitungsartikeln wie selbstverständlich verwendet wird – und dabei völlig unzutreffend ist? Die Rede ist von social distancing.
Darüber gestolpert bin ich in einem Leserbrief – die Irritation der Schreiberin brachte mich dazu, der Sache nachzugehen. Auf der freien Enzyklopädie Wikipedia stiess ich auf den Hinweis, dass dieser Sprachgebrauch auch im Englischen wiederholt stark kritisiert worden sei.
«Abstand halten» lautet die Devise in den Zeiten von Corona. Zwei Meter sollen es mindestens sein, damit die Ansteckung durch das Virus verhindert wird. Dabei handelt es sich um eine von verschiedenen Empfehlungen wie beispielsweise häufiges Händewaschen mit Seife.
«Abstand halten» ist nichts anderes als physisch auf Distanz gehen zu anderen Menschen, überall dort, wo man sich begegnet: auf der Strasse, im Supermarkt, in der Bäckerei, auf dem Bahnsteig, im Treppenhaus. Raum schaffen zwischen (möglicherweise) infizierten und nicht infizierten Personen. Wie konnte es geschehen, dass dieses Verhalten socialdistancing genannt wird? Und nicht physical distancing?
Auch die deutsche Bezeichnung soziale Distanzierung ist völlig missverständlich, impliziert sie doch, dass Menschen gesellschaftlich auf Abstand zueinander gehen sollen.
Klar ist es so, dass ich zur Zeit keine Freundinnen und Freunde nach Hause einlade; dass Teamanlässe abgesagt sind, ebenso wie Lesungen und Konzerte und Sportveranstaltungen. Aber die Nähe zu anderen Menschen ist doch damit nicht aufgehoben! Menschen sind deshalb nicht sozial isoliert. Und wenn sie es sind, wenn sie vergessen gehen, wenn sie ausgestossen werden – dann nicht, weil wir körperlich zwei Meter Abstand zueinander halten.
In den letzten Wochen nahm ich zeitweise Aggressivität, Misstrauen und argwöhnische Blicke wahr. Aber ebenso ein Gefühl der Solidarität, der gegenseitigen Aufmerksamkeit und, ja, Lebensfreude.
Mittlerweile stimmt es mich hoffnungsvoll, wenn mir jemand auf dem Spaziergang im Wald freundlich zulächelt. Oder von Weitem zuwinkt. Wenn es nach mir ginge, könnten wir uns den Handschlag ganz abgewöhnen. Auch nach Corona.
Liebe Suleika
Du sprichst mir aus dem Herzen, hast mich also ganz tief berührt, weit über das Social distancing hinaus! Dieses Wort ist Anwärter für das Unwort des Jahres 2020!
Ich glaube aber, das diese Formulierung ein verräterisches Zeichen für diejenigen „Erfinder“ sind, die es in die Welt gesetzt haben.
Es soll keine soziale Nähe aufkommen, sonst würden wir uns ja austauschen, wie wir all diese Massnahmen finden und vielleicht uns gemeinsam dagegen auflehnen, Alternativen fordern etc.
Social distancing impliziert die Haltung „nimm die in Acht vor den Andern“, isoliere dein Umfeld, vor allem die „Alten“! Die gesundheitliche Gefährdung ist sicher ein valabler Grund, aber wieso werden die nützlichen Krisenerfahrungen der Alten nicht beigezogen?
Social distancing erlaubt jedem die ihm nicht genehmen „Andersartigen“ mit Staatszustimmung auszugrenzen!
Wie werden wir die Ausgrenzung wieder überwinden, wenn uns wieder nähern dürfen?
Ich wünsche uns viel Mut und Akkzeptanz!
Manuela
Danke für die Rückmeldung und Deine Fragen, die meiner Meinung nach sehr berechtigt sind. Wenn meine Beiträge zum Denken anregen, freut mich das sehr. Vor allem, da ich den Eindruck habe, dass Grundrechte zur Zeit “vergessen” gehen. Suleika.