Alle wollen eine Wohnung mit Balkon. Das ist zumindest mein Eindruck. Ein kleiner Park in der Nähe? Ein See? Oder gar ein ganzer Wald? Zählt nicht! Eine Terrasse muss die Wohnung haben, eine Veranda, eine Loggia! Im Minimum aber: einen Balkon. Darunter geht’s nicht.
Doch als ich im Juni in einer kleinen Stadt im Welschland Ferien machte, fiel mir auf: Niemand sitzt abends auf dem Balkon. Auch bei Temperaturen, die tagsüber auf 30 Grad steigen, nicht. Endlich sind die lauen Sommertage da, wie gemacht für einen lauschigen Abend auf dem Balkon. Aber nix da. Ich spazierte durch die Strassen der Kleinstadt: 10-stöckige Wohnblocks, ein Balkon reiht sich an den anderen. Doch niemand da. Kein Lachen, keine Kinderstimmen, keine entspannten Feierabendgespräche. Wo sind all die Menschen?
Als ich für den zweiten Teil der Ferien in die Ostschweiz wechsle: dasselbe Phänomen. Ich sitze auf einem Laubengang und blicke auf einen überbauten Hang und staune: Ob Einfamilienhaus, Reihenhaus oder Wohnblock – praktisch jedes Haus hat einen Balkon. Menschen sehe ich keine. Nicht zur Abendessenszeit, nicht später am Abend, nicht beim Eindunkeln. An der Temperatur kann es nicht liegen – die ist schlicht perfekt, weder zu kühl noch zu warm, laues Lüftchen inklusive. Und Schulferienzeit ist auch noch nicht.
Was machen all die Leute? TV-Glotzen? Als Paar gemeinsam auf dem Sofa sitzen und jeder starrt schweigend auf sein Smartphone? Erotische Fotos bei Tinder hochladen? Tweets lesen? Bildli auf Instagram teilen? Oder Tiktoken? Im WhatsApp- oder Threema-Chat mit anderen plaudern? Könnte man theoretisch auch auf dem Balkon tun, oder?
So sitze ich also weiter im Freien auf meinem Stuhl und blicke auf die Wolken am Abendhimmel, höre dem Gezwitscher der Vögel zu und den Kuhglocken. Und auf einmal entdecke ich in der Ferne ein orangefarbenes Haus mit einem Sonnenschirm im Garten – und Menschen auf dem Balkon. Ich atme erleichtert auf. Ich bin also doch nicht aus Versehen im Film “Die Wand” gelandet*, bin nicht der einzige Mensch, der überlebt hat! Bin ich froh!
*Anmerkung zum Film:
“Die Wand” (2012), nach dem Roman von Marlen Haushofer.
Eine Frau fährt mit einem befreundeten Paar zu einer einsamen Jagdhütte in den oberösterreichischen Bergen. Das Paar geht abends noch zu Fuss ins Dorf, während die Frau sich schlafen legt. Als sie am nächsten Morgen feststellt, dass die beiden nicht zurückgekehrt sind, macht sie sich auf den Weg ins Dorf. Unterwegs stösst sie gegen eine unsichtbare Wand, die offenbar über Nacht entstanden ist und das Tal auf allen Seiten umgibt. Die Frau kann sich durch die Wand hindurch nicht bemerkbar machen und sie nicht durchbrechen.
Haushofers Roman aus dem Jahr 1963 kann als radikale Zivilisationskritik verstanden werden, die den Menschen wieder in die Natur zurückversetzt. Eine weitere Lesart ist, den Roman als Kritik am Patriarchat aufzufassen – der einzige weitere Überlebende erweist sich als so aggressiv, dass er, kaum eingeführt, von der Protagonistin erschossen wird. (Quelle: Wikipedia).