Neulich im Zug von Zürich nach Luzern: «Geschätzte Fahrgäste. Wir bitten Sie, die Sitzplätze freizugeben und nicht mit Ihrem Gepäck zu besetzen.» Ein paar Tage später dann im Zug von Luzern nach Lugano: «Gentili viaggatori. Non mettere le valigie sui posti liberi!»

Sind die SBB zur Oberlehrerin der Nation mutiert?

Müssen wir uns das jetzt während jeder Zugsfahrt xig-fach anhören? Nach jedem Halt wieder und auch noch in vier Sprachen? (Die englische Version ist besonders hübsch: «Dear passengers. Don’t put your luggage on empty seats. Seats must kept free for other passengers.») Und das vielleicht monatelang? So wie damals, als eine Maskenpflicht bestand und jede und jeder spätestens nach zwei Wochen wusste, was Sache war? Bei mir waren die Aversionen gegen jene Stimme (die Maskenstimme, wie ich sie nannte) nach einer Weile so stark, dass ich es heute fast nicht mehr ertrage, wenn ich die über Lautsprecher eingespielten gewöhnlichen Zugsdurchsagen höre, die von der nämlichen Stimme gesprochen werden. Vielleicht werden die verantwortlichen Personen der Kommunikationsabteilung bald ein Einsehen haben und eine neue Stimme bringen, damit wir nicht fortwährend an die Pandemie erinnert werden.

Zurück aber zum neuesten Furz der SBB: Statt mich pünktlich von A nach B zu befördern, belästigen sie mich nun akustisch mit dem repetitiven Abspielen der Durchsage von wegen Gepäck nicht auf den Sitz stellen.

Stopp. Kurzes Innehalten: Wie schreibe ich das hier so, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mich danach nicht für eine unmögliche Nörgeltante halten, die verbittert durchs Leben geht und sich mit solchen Nebensächlichkeiten abgibt? Vielleicht funktioniert es, wenn ich Ihnen mit etwas milderen Worten darlege, was mich tatsächlich betrübt?

Es macht mich traurig, dass die Menschen in diesem Land offenbar lieber Anordnungen empfangen und befolgen, die über Lautsprecher verbreitet werden, als die Auseinandersetzung mit ihrem Gegenüber wagen; das Sich-auseinander-setzen; die freundliche Frage auszusprechen, die da lautet: «Ist dieser Platz noch frei» (in der diskreten Variante) oder «Nehmen Sie bitte Ihre Tasche vom Sitz, ich möchte mich hierhin setzen!» (die direkte Variante). Ich habe in all den Jahren, in denen ich Zug, Tram, Bus und Schiff fahre, genau einmal erlebt, dass jemand mit «Nein» antwortete. 

Es gibt auch noch eine praktische Seite: Ich sehe nicht, wo das Problem liegt, wenn jemand in einem halbleeren Zug eine Tasche neben sich auf den Sitz stellt, statt auf den schmutzigen Boden. Und wären die Gepäckablagen nämlich einigermassen praktisch, würden viel mehr Zugspassagiere ihr Gepäck auf die Ablage legen. Ich spreche da über mein eigenes Leid: Als Vielfahrende, die in der Regel mit mindestens zwei Taschen unterwegs ist, weiss ich oft nicht, wohin damit. Zugute halten muss ich aber und betonen möchte ich, dass es den Konstrukteur*innen der neuesten Version des Voralpenexpresses gelang, grosszügige Gepäckablagen einzuplanen – da hat es sogar Platz für Sporttaschen und den klassischen Papiersack der Grossverteiler, aufrecht gestellt! 

Und neben den Ablagen, die in vielen anderen Zügen schlecht sind, kommt etwas Weiteres hinzu: In vielen Zügen ist leider der Abstand zwischen den gegenüberliegenden Sitzen so klein, dass eine Zugsfahrt mit der Handtasche auf den Knien einem Akrobatik-Akt gleichkommt. Wie soll ich beispielsweise einen Kaffee trinken oder eine Zeitung lesen, wenn ich keine Hand frei habe? Es gibt zudem jede Menge anderer handfester Gründe, weshalb man eine Tasche nicht auf den Boden stellt (ich persönlich finde das «wääh!»), sondern eben auf den Sitz neben sich deponiert – vorausgesetzt, der Zug ist nicht überfüllt. Menschen mit etwas Verstand können sehr wohl unterscheiden, wann ein Zug voll ist und wann nicht. – 
Irgendwie erinnert mich das übrigens auch an die Sache mit den wunderbaren Ruhewagen – Sie erinnern sich nicht mehr? Es gab eine Zeit, da existierten in den Zügen spezielle Ruheabteile, wo man ungestört lesen oder träumen konnte. Weil sich die Mitfahrenden in Ermangelung von Zivilcourage aber nicht getrauten, Ruhestörer*innen zurechtzuweisen, und sich die Zugbegleiter*innen ebenfalls weigerten, ihren Job zu machen, wurden die Ruhewagen in der 2. Klasse still und leise abgeschafft.

Vielleicht ist das eigentliche Problem aber noch tiefer zu orten: Die Leute glotzen auf ihr elektronisches Spielzeug und spinnen sich in ihren Kokon ein, signalisieren: «Sprich ja nicht mit mir!» Oder sie rempeln Mitpassagiere an, statt mit einem kurzen «äxgüsi» darauf zu vertrauen, dass die anderen auf die Seite gehen. Da braucht es wohl bald neue Lautsprecherdurchsagen auf den Perrons: «Liebe Fahrgäste, bitte warten Sie, bis die ankommenden Reisenden ausgestiegen sind, bevor Sie einsteigen. Wir garantieren, dass der Zug vorher nicht abfährt. Danke für Ihre Mithilfe.»
(Bild: Victoria_rt auf Pixabay.com)

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