Vor zwei Wochen wurde Queen Elizabeth II in Westminster Abbey beigesetzt, frau fragt sich, ob es wohl in Wahrheit deren Grossmutter Victoria gewesen ist. Denn immer öfters habe ich den Eindruck, ich lebe im Zeitalter der neuen Prüderie. Wie ich darauf komme?
Unlängst liessen sich zwei Journalistinnen einer Sonntagszeitung auf einer ganzen Seite darüber aus, welcher Typ Mitmensch sie in den Sommerferien am meisten geärgert hat. Eine Kategorie möchte ich herausgreifen, betitelt war sie mit “Die Frischverliebten”. Weshalb nur, so fragte ich mich beim Lesen, lösen die unschuldigsten Wesen überhaupt solche Aggressionen aus?
Schamgefühl ist etwas sehr Individuelles, dennoch kann ich nicht verstehen, was so schlimm daran ist, wenn sich zwei Menschen, die sich begehren, ausserhalb ihrer vier Wände küssen. Mehr noch, ich sehe hier eine politische Dimension und deshalb möchte ich darlegen, weshalb es sich meiner Meinung nach lohnt, grosszügiger zu sein.
Die Schweiz wird oft als die älteste Demokratie der Welt bezeichnet, und manches, was bei uns im öffentlichen Raum erlaubt ist, wird in anderen Ländern mit Gefängnis bestraft. Manchmal, wie im Fall von Mahsa Amini im Iran kann so genannt unschickliches Hervorquellen von Haaren unter einem Tuch zum Tod führen. Wir hier in der Schweiz sollten dankbar dafür sein, dass wir in vielen Situationen frei entscheiden dürfen, wie wir leben wollen. Und: Es ist Krieg in Europa, Menschen werden gefoltert, abgeschlachtet. Statt neidisch zu sein auf zwei, die das Leben feiern, die sich mögen und vielleicht sogar lieben, schlage ich vor: Ruft “bravo”! Freut Euch!
Mehr küssen, nicht weniger, wäre nötig – überall: zu Hause, auf dem Balkon, im Bus, im Tram, auf öffentlichen Plätzen und im Sommer am Strand!
Ich erlebe mich gerne schamfrei. Es entspannt. Freund*innen berichten mir dasselbe. Lust und Freude, das Lachen als politisches Momentum in einer von Ernsthaftigkeit verstellten und verhärteten Welt. Und übrigens, Küssen stärkt sogar noch das Immunsystem. Der Winter kann kommen.
(Bild: Tinytribes auf Pixabay.com)